Thematic Insights: Ein Gespräch über das asiatische Jahrhundert

22/09/2022

 

Veritas Asset Management wurde 2003 in London gegründet und ist ein unabhängiges Investment-unternehmen, das ein Vermögen von mehr als USD 28 Milliarden verwaltet.

Wir sprachen mit Ezra Sun, Leiter des Asiengeschäfts von Veritas und Manager des Veritas Asian Fund. Der Veritas Asian Fund wurde 2004 aufgelegt und ist ein panasiatischer Long-only-Fonds, der in Unternehmen im asiatisch-pazifischen Raum (ausser in Japan) investiert.

Bevor Ezra 2004 zu Veritas kam, war er ab 1995 als Aktienanalyst und Portfoliomanager für den asiatisch-pazifischen Raum bei Newton Investment Management tätig. Ezra spricht fliessend Chinesisch und hat einen Abschluss in englischer Literatur der Nankai University, China. Er war ausserdem als Forschungsstudent an der Universität Cambridge tätig.

Für weitere Angaben zu unseren Anlagen wenden Sie sich bitte an Ihren Kundenberater.

F1. Ezra, Sie arbeiten seit vielen Jahren im Bereich der asiatischen Schwellenländer (EM). Wie hat sich die Region verändert und wo sehen Sie das grösste Anlagepotenzial?

Seit ich vor 27 Jahren mit Anlagen in der Region begonnen habe, hat sie sich stark verändert. Die grössten Märkte der asiatischen Schwellenregion waren damals Thailand, Malaysia, Indonesien, Taiwan und Korea (siehe den R&Co-Artikel über die asiatischen Schwellenländer). Heute dominieren Indien und China, und vor allem China, das ein starkes Wachstum verzeichnet. Um Ihnen ein Beispiel zu geben: Im Jahr 2000 lag das Pro-Kopf-BIP in China bei USD 1’000, im Jahr 2022 wird es USD 12'000 betragen. Indien ist zwar nicht so stark gewachsen wie China, aber seit der indischen Finanzkrise von 1991 verfolgt das Land einen marktwirtschaftlichen Ansatz. Wenn es die wirtschaftsfreundlichen Reformen fortsetzt, könnte es sich in den nächsten 10 bis 20 Jahren sehr gut entwickeln und möglicherweise das wiederholen, was China in den letzten 20 Jahren erreicht hat.

F2. Worin besteht heute der grösste Unterschied zwischen Indien und China in Bezug auf das Anlageumfeld?

Wir haben Indien immer als eine unterinvestierte Wirtschaft eingestuft, weil die Anlagen dort vor allem wegen der niedrigen lokalen Sparquote nur langsam zunehmen. Ferner bestehen für ausländische Kapitalzuflüsse hohe Eintrittsbarrieren. Dies ist ein Relikt aus der Kolonialzeit Indiens, die das Land – bis heute – sehr misstrauisch gegenüber ausländischem Kapital und überbeschützend gegenüber dem heimischen Markt macht. Auf der anderen Seite konnten die etablierten Unternehmen aufgrund des begrenzten Wettbewerbs und der - aufgrund der erhöhten Kapitalkosten - hohen Marktzutrittsbeschränkungen wesentlich rentabler arbeiten. In China ist das Gegenteil der Fall, da chinesische Unternehmen aufgrund des starken Wettbewerbs stets expandieren mussten. Auch der Zugang zu Kapital ist relativ einfach, da die einheimischen Sparquoten hoch und die ausländischen Kapitalzuflüsse stark sind.

Q3. Wie sehen Sie die allgemeine Situation der asiatischen Verbraucher in den Ländern, in denen Sie tätig sind?  

Die Zahl der asiatischen Verbraucher und insbesondere der asiatischen Verbraucher der Mittelschicht nimmt weiter zu (Abb. 1). In der Vergangenheit gaben sie den Grossteil ihres Geldes für grundlegende Güter wie Fernseher, Autos und Kühlschränke aus. Heute geben sie ihr Geld für Dinge aus, die ihre Lebensqualität und ihr allgemeines Wohlbefinden steigern, wie z. B. Unterhaltung, Übernachtungen und Bewirtung, Reisen (sowohl national als auch international) und Sport. Insbesondere die beiden letztgenannten Sektoren bieten interessante Anlagemöglichkeiten, da die Leute begonnen haben, einen westlicheren Lebensstil zu übernehmen. Als Folge davon nehmen Übergewicht und andere «Wohlstandskrankheiten» zu. Das wiederum führt zu steigenden Ausgaben für Sportaktivitäten. In Bezug aufs Reisen haben wir alle in den letzten Jahren die Welle chinesischer Touristen miterlebt. In den nächsten fünf Jahren erwarte ich eine ähnliche Welle indischer Touristen. Anlagen in Unternehmen, die Produkte und Dienstleistungen anbieten, die den Ansprüchen und dem Lebensstil der Verbraucher entsprechen, haben für uns daher Priorität.

Abbildung 1: Die Verbraucherklasse verlagert sich nach Osten – das nächste Jahrzehnt wird wohl zum Jahrzehnt Südasiens

SourC13091 - Chart-01 - DE.jpgQuelle: World Data Lab projections

F4. Die Strategie des Fonds ist auf die asiatischen Schwellenländer ausgerichtet, in denen China das dominierende Land ist. Wie haben sich die jüngsten aufsichtsrechtlichen, konjunkturellen und geopolitischen Probleme sowie die Covid-19-Pandemie auf den Fonds ausgewirkt?

China befindet sich in einer schwierigen Lage. Erstens hat sein Wachstum ein Niveau erreicht, von dem aus weiterer Wachstum schwierig wird. Zweitens scheint sich die Globalisierung vor dem Hintergrund des globalen politischen Kurses umzukehren. Für China war es nie nachhaltig, sein Geschäftsmodell auf Verbraucher ausserhalb Chinas auszurichten, denn man kann sich, wenn man weiterkommen will, nicht immer auf die Verbraucher aus Übersee verlassen. Darüber hinaus altert die chinesische Bevölkerung aufgrund der drakonischen Ein-Kind-Politik vergangener Jahre rasch. China befindet sich somit an einem wichtigen Wendepunkt, der eine wirtschaftliche Verlangsamung einläuten könnte. Um das ins Verhältnis zu setzen: Bisher wuchs das chinesische BIP um 7-10 % pro Jahr. Dieser Wert hat sich inzwischen auf 5-6 % pro Jahr verringert, und wir gehen davon aus, dass er bis zum Ende des Jahrzehnts bei 3-4 % pro Jahr liegen wird. Diese Verlangsamung könnte schneller eintreten als zunächst erwartet. Als Investor müssen Sie sich jedoch auf Prognosen verlassen. Die Wachstumsanpassung von 5-6 % p.a. auf 3-4 % p.a. könnte sich auf Anlageentscheidungen auswirken, was letztlich zu einer beschleunigten Konjunkturabschwächung führen könnte. Ich persönlich sehe in bestimmten Bereichen der Wirtschaft immer noch eine Menge Potenzial. Vor allem die Dekarbonisierung wird ein starker Motor für weiteres Wachstum in China sein, da viele der weltweit führenden Unternehmen im Bereich der erneuerbaren Energien chinesische Unternehmen sind.

F5. Und wie sieht es mit der Immobiliensituation in China aus – sehen Sie dort die Gefahr einer Eskalation?

Wir haben immer wieder darauf hingewiesen, dass die Immobilienpreise in China zu hoch sind und die Verschuldung der privaten Haushalte zu schnell steigt. Folglich haben wir in den letzten sieben bis acht Jahren nicht in dieses Segment investiert. Präsident Xi war sich immer sehr bewusst, dass dies möglicherweise ein systemisches Risiko für das Finanzsystem darstellt. Seit er vor neun Jahren an die Macht kam, hat er daher versucht, diese Zeitbombe zu entschärfen. Bis zu einem gewissen Grad war er erfolgreich, aber die Blase ist immer noch riesig und es wird Jahre dauern, bis sie sich auflöst. Glücklicherweise hat sich der Sektor in den Händen staatlicher Unternehmen konsolidiert, die niedrigere Finanzierungskosten und einen besseren Zugang zu Liquidität haben. Das «Ansteckungsrisiko» für die übrige Wirtschaft ist zwar begrenzt, aber es wird einige Probleme verursachen, da der Grossteil des chinesischen Vermögens in Immobilien gehalten wird. Wenn die Immobilienpreise fallen, werden die Chinesen weniger ausgeben. Wie bereits erwähnt: China hat mit vielen makroökonomischen Problemen zu kämpfen, aber wir investieren nicht in die chinesische Wirtschaft, sondern in einzelne chinesische Unternehmen, von denen wir glauben, dass sie langfristiges Wachstum erzielen können, weil sie von einem strukturellen Rückenwind profitieren. Wir sind zuversichtlich, dass wir mit unserem Fachwissen auch in Zukunft die Bereiche identifizieren können, die weiterhin stark wachsen werden, und dass wir trotz der allgemein schwächeren Wirtschaftsaussichten die richtigen Unternehmen auswählen können.

F6. Wie beurteilen Sie das potenzielle Risiko einer Eskalation in Taiwan?

Ich halte das Eskalationsrisiko für sehr klein, weil China die USA militärisch nicht herausfordern kann: Es fehlt dem Land an entsprechender Ausrüstung, da die USA mindestens dreimal so viel für sein Verteidigungsetat ausgibt wie China. Präsident Biden hat erklärt, dass die USA Taiwan notfalls verteidigen werden. Ich sehe Taiwan daher eher als einen Knopf, den die USA immer wieder drücken werden, um zu sehen, wo die chinesischen "Grenzen" liegen. Gleichzeitig gibt dies den USA die Gelegenheit, China in der Weltöffentlichkeit in ein schlechtes Licht zu rücken.

F7. Nun zu Ihrem Anlageprozess. Wie berücksichtigen Sie das aufsichtsrechtliche und politische Risiko in China bei Ihren Anlageentscheidungen?

Die aufsichtsrechtliche Situation wird durch den sogenannten "allgemeinen Wohlstand" bestimmt.

Was ist allgemeiner Wohlstand?

In den letzten drei Jahrzehnten verfolgten die aufeinanderfolgenden chinesischen Führer den Ansatz «einige zuerst reich werden lassen» oder, wie manche es nennen, «Kapitalismus mit chinesischen Werten». Dies hat tiefgreifende Auswirkungen gehabt: In den letzten 40 Jahren hat China rund 650 Millionen Menschen aus der Armut in den relativen und absoluten Wohlstand geführt. Trotz dieses unglaublichen Erfolgs gibt es in China immer noch schätzungsweise 800 Millionen Menschen, die von USD 140 pro Monat oder weniger leben. "Allgemeiner Wohlstand" hat sich als eines der wichtigsten Konzepte herauskristallisiert, die Chinas Politik heute leiten, wenn es darum geht, das Leben dieser 800 Millionen Menschen zu verbessern. Der Begriff entstand während eines Treffens unter dem Vorsitz von Präsident Xi Jinping im August 2021, als es darum ging, sich für eine Verringerung der Einkommensungleichheit stark zu machen und die Förderung einer auf den Menschen ausgerichteten Entwicklung einzuleiten. Dies ist keine kurzfristige Angelegenheit. Vielmehr sieht die chinesische Regierung dies als ein Projekt, an dem in den nächsten 25 bis 30 Jahren gearbeitet werden soll. Dabei anerkennt die Regierung, dass ein gesunder und erfolgreicher Privatsektor, auf den der Grossteil der Beschäftigung, der Steuern und der Innovation entfällt, Voraussetzung für den Erfolg des Projekts ist.

 

Vor allem die Einkommensgleichheit (Abb. 2) ist ein Thema nicht nur in China, sondern weltweit. In China hat sich die Kluft zwischen Arm und Reich massiv verbreitert: Während das durchschnittliche Jahreseinkommen in den Städten bei USD 47'000 liegt, beträgt es auf dem Land nur USD 18'000. Die chinesische Regierung ist nun bestrebt, diese Kluft zu schliessen und den Wohlstand gerechter zu verteilen.

Abbildung 2: Ungleichheit im Vergleich

Verfügbares jährliches Pro-Kopf-Einkommen in Yuan

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Quelle: National Bureau of Statistic of China, Statista

Um dies zu erreichen, hat sich die chinesische Regierung verpflichtet, die Einkommen von Gruppen mit niedrigem Einkommen zu erhöhen, Fairness zu fördern, übermässige Einkommen angemessen zu regulieren und sowohl Menschen mit hohem Einkommen als auch Unternehmen zu ermutigen, mehr an die Gemeinschaft zurückzugeben. So bedrohlich der allgemeine Wohlstand auch klingen mag – er wird bis zu einem gewissen Grad von sozialer Gerechtigkeit bestimmt und könnte, wenn er gut umgesetzt wird, der gesamten Gesellschaft zugutekommen. Charakteristisch für die chinesische Art der Umsetzung von Reformen ist jedoch, dass sie mit harter Hand durchgeführt und nicht richtig kommuniziert wurden. Es ist daher verständlich, warum der Plan in den Medien so schlecht aufgenommen wurde. Letztendlich geht es darum, das richtige Gleichgewicht zu finden und gut zu kommunizieren.

F8. Was halten Sie vom Delisting chinesischer Unternehmen durch die USA?

Wir haben immer gesagt, dass chinesische Unternehmen aus politischen Gründen und im Zuge des «Finanzkriegs» zwischen den USA und China irgendwann ihre Börsenzulassung in den USA verlieren werden. Dies wird jedoch nicht das Ende dieser Unternehmen sein. Sicher, einige Anleger werden diese Aktien verkaufen, aber die Unternehmen werden neu notiert werden, wahrscheinlich in Hongkong, wo inländische Investoren in Unternehmen wie Alibaba und Pinduoduo investieren können. Diese Anleger werden natürlichere Eigentümer von Unternehmen sein, deren Produkte und Dienstleistungen seit langem Teil ihres Lebens sind. Langfristig gesehen ist dies also keine so schlechte Entwicklung für die Unternehmen.

F9. Welche Möglichkeiten sehen Sie im Moment?

In den nächsten fünf bis zehn Jahren sehe ich den Schwerpunkt auf Unternehmen, die neue Energielösungen anbieten, die also Elektrofahrzeuge, Akkus, Solarenergie, Windenergie usw. produzieren oder an deren Produktion mitwirken (Abb. 3), sowie auf der Zulieferkette für diese Branchen. Insbesondere Anlagen in Solarenergie, wo China einen Marktanteil von 75 % hält, werden weltweit steigen. In Anbetracht der Tatsache, dass die Energiesicherheit jetzt weltweit auf den politischen Tagesordnungen ganz oben steht und dies Investitionen z. B. im Solar-Bereich antreibt, wo China hinsichtlich Solartechnologie und deren Lieferkette über einige globale Marktführer verfügt, sehen wir hier ein grosses Potenzial.

Abbildung 3: Globale Anlagen in die Energiewende nach Ländern

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Quelle: Rothschild & Co, BloombergNEF, 2021

F10. Was wären für unsere Leser überraschende Einsichten über China, und wohin bewegt sich das Land Ihrer Meinung nach?

Ich bin kein Verfechter der chinesischen Regierung, aber ich stelle fest, dass die allgemeine Medienberichterstattung über China eher negativ ist und es ihr an Objektivität fehlt. Um ein ausgewogenes Verständnis von China zu erlangen, muss man gut recherchieren und kritisch denken. Eine Möglichkeit, dies zu tun, besteht darin, chinesische Unternehmen kennenzulernen, und ich bin in der privilegierten Lage, täglich mit ihnen zu tun zu haben. Wir sind nach wie vor der Meinung, dass sich das chinesische Wachstum nach den Covid-Lockdowns fortsetzen wird: Die Beschränkungen werden gelockert und sobald sie vollständig aufgehoben sind, könnte sich die Wirtschaft wieder kräftig erholen. Insgesamt scheint in Bezug auf China ein allgemeiner Pessimismus vorzuherrschen. Im Laufe meiner 27-jährigen Karriere habe ich aber gelernt, dass sich in Zeiten von extremem Pessimismus für langfristige Anleger die Chance bietet, beträchtliche Renditen zu erzielen. Der Grund dafür liegt darin, dass Qualitätsunternehmen falsch bewertet werden, da ihr Aktienkurs von einer negativen Stimmung überlagert wird. Diese lässt die fundamentalen Daten der operativen Leistung des Unternehmens und seine Zukunftsaussichten ausser Acht lässt. China ist nicht so schlimm, wie es in den Medien oft dargestellt wird.

Wir haben Ezra Sun, Manager des Veritas Asian Fund, am 16.08.2022 interviewt. Das Interview wurde von unserem Investment Insights and Advisory Team bei Rothschild & Co Wealth Management Switzerland (Rothschild & Co Bank AG) geführt. Bitte beachten Sie, dass die in diesem Gespräch dargestellten Ansichten nicht im Namen von Rothschild & Co. geäussert werden.